Europawahl 2024 – was für die EU und Deutschland auf dem Spiel steht

Janis A. Emmanouilidis and Johannes Greubel

Brussels 01/2024

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Vom 6.-9. Juni 2024 werden die EU-Bürger*innen nach fünf Jahren erneut aufgerufen, ihre Stimmen für die Wahl zum Europäischen Parlament (EP) abzugeben. Die Wahl der 720 Mitglieder des EP ist der naheliegendste Weg, über den das europäische Wahlvolk Einfluss auf die EU nehmen kann. Janis A. Emmanouilidis und Johannes Greubel vom European Policy Centre in Brüssel erklären in einem Gastbeitrag, was von den kommenden Europawahlen zu erwarten ist.

Wahlbeteiligung als Schlüssel

Bei der letzten Europawahl 2019 gab es zum ersten Mal seit 1979 eine Trendwende bei der Wahlbeteiligung, nachdem diese in den 30 Jahren zuvor stetig gesunken war, von ursprünglich 62 Prozent (1979) auf knapp 43 Prozent (2014). Mit Präsident Trump im Weißen Haus und im Schatten der laufenden Brexit-Verhandlungen entschied sich eine Mehrheit der Wahlberechtigten (fast 51 Prozent), ihre Stimme abzugeben.

Im Ergebnis hatte sich 2019 die Befürchtung, dass populistische, anti-europäische Kräfte massive Wahlerfolge erzielen, nicht materialisiert. Im Gegenteil: Die höhere Wahlbeteiligung führte zu einer klaren Mehrheit der pro-europäischen Kräfte im Europäischen Parlament.

Die EU in der Permakrise

Bei der anstehenden Europawahl steht ähnlich viel auf dem Spiel. Noch immer befindet sich die EU inmitten einer Permakrise, die sie seit mehr als 15 Jahren im Schach hält – von der globalen Finanzkrise, der europäischen Schuldenkrise, der Migrationskrise, bis hin zum Austritt Großbritanniens aus der EU, den Herausforderungen der COVID19-Pandemie sowie Russlands Ausweitung des Krieges auf die gesamte Ukraine. Und auch in Zukunft ist davon auszugehen, dass Europa unter fundamentalen Krisen leiden wird. Dabei werden die zunehmenden geopolitischen und geoökonomischen Herausforderungen ein höheres Maß an europäischer Zusammenarbeit erfordern.

Trotzdem scheint die Stimmung vor diesen Wahlen eine andere – und zwar aus unterschiedlichen Gründen:

Zum einen steht die EU in den meisten Mitgliedstaaten nicht im Zentrum der national geführten politischen Debatten. Themen wie der Krieg in der Ukraine, der Kampf gegen den Klimawandel oder die Zukunft der Migrationspolitik werden vornehmlich aus der nationalen Perspektive debattiert. Wenn überhaupt, spielt die europäische Dimension eine nachgeordnete Rolle – selbst im Kontext des anstehenden Europawahlkampfs. Bereits in der Vergangenheit stand Europa hier nicht immer im Vordergrund. Doch dieses Mal könnten die politischen Konsequenzen gravierender sein als in den Jahren zuvor.

Darüber hinaus besteht unter vielen Wähler*innen der Eindruck, dass ihre Stimme bei den Europawahlen keine maßgebliche Rolle spielt. Die Tatsache, dass 2019 keiner der Spitzenkandidaten der europäischen Parteifamilien die Führung der EU-Kommission übernommen hat, hat diesen Eindruck verstärkt.

Die Gefahr: ein Rechtsruck im neuen Europäischen Parlament

Im Ergebnis besteht die Gefahr, dass die Wahlbeteiligung geringer sein wird als vor fünf Jahren. Sollte dem so sein, werden davon vor allem populistische, anti-europäische Kräfte am rechten Rand des politischen Spektrums profitieren. In vielen EU-Mitgliedstaaten, darunter auch in Deutschland, spüren diese Parteien bereits auf der nationalen Ebene politischen Rückenwind und in der Vergangenheit hat sich wiederholt gezeigt, dass anti-systemische Parteien bei Europawahlen traditionell noch stärker in der Lage sind, das Wahlvolk zu mobilisieren. Hinzu kommt, dass viele Wähler*innen die Europawahl zum Anlass nehmen, traditionelle Parteien abzustrafen, weil sie der Ansicht sind, dass dies keine erheblichen politischen Auswirkungen haben würde.

Doch dem ist definitiv nicht so: Eine geringere Wahlbeteiligung sowie der Erfolg europaskeptischer Kräfte hätten gravierende Folgen. Zum einen würde dies zu einer Schwächung der traditionellen politischen Kräfte auf EU-Ebene und zu einer noch stärkeren Fragmentierung des Europaparlaments führen. Zum anderen würde die Bildung von konstruktiven politischen Mehrheiten dadurch maßgeblich erschwert, was angesichts der zunehmenden Herausforderungen auf der europäischen und internationalen Bühne eine (weitere) Schwächung der eigenen Handlungsfähigkeit nach sich ziehen würde. Darüber hinaus würde ein Wahlerfolg populistischer Kräfte auch auf nationaler Ebene massive politische Konsequenzen nach sich ziehen. In den Mitgliedstaaten würden traditionelle politische Parteien bei Europathemen noch weiter unter Druck geraten. In Zeiten, in denen Europa mehr denn je politische Führung auf Seiten der Mitgliedstaaten benötigt, wäre dies eine äußert negative Entwicklung.

Drei Handlungsmaximen

Doch das oben beschriebene Szenario kann verhindert werden. Drei Dinge erscheinen von zentraler Bedeutung:

Erstens: In den nächsten Monaten wird es darauf ankommen, dass politische Parteien und zivilgesellschaftliche Akteur*innen ein Bewusstsein dafür schaffen, was bei den anstehenden Europawahlen auf dem Spiel steht und welche Rolle die EU hinsichtlich der Bewältigung der aktuellen Herausforderungen spielt. Sie müssen stärker erklären, warum der Ausgang der Europawahlen im aktuellen Kontext richtungsweisend ist für die Zukunft Europas. Mehr europäische Zusammenarbeit ist notwendig und eine schonungslose öffentliche Debatte über Europas Rolle und Herausforderungen erforderlich, um öffentliches Bewusstsein zu schaffen. Nur wenn den Bürger*innen klar ist, worum es geht, werden sie im Juni ihre Stimme abgeben.

Zweitens: Der Ausgang der Europawahl sollte einen maßgeblichen Einfluss auf die Besetzung der künftigen EU-Führungspositionen sowie die Definition der politischen Prioritäten der Union in der kommenden Legislaturperiode haben. Die Spitzenkandidat*innen der europäischen Parteienfamilien sollten im künftigen Führungsgeflecht der EU prominent vertreten sein. Dazu sollten sich nicht nur das EP, sondern auch die Staats- und Regierungschefs im Europäischen Rat politisch verpflichten. Auch dahingehend sollten zivilgesellschaftliche Akteur*innen bereits vor den Wahlen öffentlichen Druck aufbauen.

Um die kommende strategische Agenda und Prioritäten der nächsten Kommission zu definieren, bedarf es zudem einer transnationalen öffentlichen Debatte über die politischen Schwerpunkte der nächsten fünf Jahre. An dieser organisierten politischen Debatte sollten gewählte Vertreter*innen aller Ebenen – von der lokalen, regionalen, nationalen bis zur europäischen – sowie zufällig ausgewählte Bürger*innen aus allen EU-Mitgliedstaaten beteiligt werden.

Drittens: Die Debatte zur Zukunft der EU im Kontext der anstehenden Europawahlen sollte auch dafür genutzt werden, deren demokratische Grundlagen schrittweise zu modernisieren. Wie jede Demokratie muss auch die EU an die veränderten Gegebenheiten des politischen Diskurses angepasst werden. Umfragen belegen, dass die Bürger*innen Europas auch auf der EU-Ebene ein stärkeres Mitspracherecht einfordern. In diesem Kontext sollten die vorhandenen partizipativen Instrumente gestärkt und neue Formen der EU-Bürger*innenbeteiligung etabliert werden. Diese Innovationen sollten als Ergänzung und nicht als Konkurrenz zu den repräsentativen Elementen europäischer Demokratie verstanden werden. Eine ehrliche und glaubwürdige Debatte über die Weiterentwicklung der EU-Demokratie ist nicht nur grundsätzlich erforderlich. Sie würde den Wähler*innen auch zeigen, dass ihre Beteiligungswünsche ernst genommen werden und dass es sich auch deshalb lohnt, ihre Stimme bei den Europawahlen abzugeben.

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