Konsequenzen der Quadratwurzel

Janis A. Emmanouilidis, Matthias Chardon

C·A·P Position

Munich 06/2007


Der EU-Gipfel am 21./22. Juni 2007 hängt am seidenen Faden: Polens Regierung hat sehr deutlich klar gemacht, dass es eines ihrer Hauptziele ist, die Macht Deutschlands bei der Stimmabgabe im Ministerrat zu vermindern. Die im Verfassungsvertrag vorgesehene Abstimmung mit doppelter Mehrheit verleiht Deutschland aufgrund seiner Bevölkerungsgröße ein erhebliches Gewicht. Mit der Einführung des Quadratwurzel-Modells würde dieses Gewicht verringert.

Die "doppelte Mehrheit" sieht im Regelfall vor, dass eine qualifizierte Mehrheit im EU-Ministerrat mindestens 55 Prozent der Mitgliedstaaten (Staatenquorum) umfassen muss und dass diese wiederum zusammen mindestens 65 Prozent der EU-Gesamtbevölkerung der EU (Bevölkerungsquorum) repräsentieren.

Die polnische Regierung schlägt nun vor, dass die Stimmen jedes Landes bei qualifizierten Mehrheitsentscheidungen nicht wie im Verfassungsvertrag vorgesehen nach der Bevölkerungszahl bemessen werden soll, sondern nach der Quadratwurzel daraus. Demnach hätte beispielsweise Deutschland mit 82,438 Mio. Einwohnern 9,08 Stimmen im Rat, Polen mit 38,157 Mio. Einwohnern 6,18 Stimmen. Die polnische Regierung hat keine definitiven Aussagen über das für eine qualifizierte Mehrheit nötige Staaten- und Stimmenquorum gemacht.

Doch welche Konsequenzen würden sich aus dem Quadratwurzel-Modell ergeben? Wie ist dieses Verfahren im Vergleich zur "doppelten Mehrheit" im Verfassungsvertrag zu bewerten?

  • Stärkung Polens im Verhältnis zu den fünf größten EU-Staaten: Der Stimmenanteil Polens wäre beim Quadratwurzel-Modell im Vergleich zu den größten fünf Mitgliedstaaten (Deutschland, Vereinigtes Königreich, Frankreich, Italien, Spanien) relativ betrachtet größer als der Bevölkerungsanteil Polens bei der doppelten Mehrheit im Verfassungsvertrag. Bei der doppelten Mehrheit des Verfassungsvertrags hätte Polen einen Bevölkerungsanteil von 7,74 Prozent, Deutschland einen Anteil von 16,72 Prozent. Im direkten Vergleich wäre der Anteil Deutschlands also um 116 Prozent größer als der Polens. Beim Quadratwurzel-Modell hätte Polen dagegen einen Stimmenanteil von 6,44 Prozent, Deutschland einen Anteil von 9,47 Prozent. Im direkten Vergleich wäre der Anteil Deutschlands also nur noch um 47 Prozent größer als der Polens.
  • Relative Stärkung der kleineren und mittleren EU-Staaten: Relativ betrachtet würden sich die kleineren und mittleren Mitgliedstaaten im Vergleich zu den sechs größten Mitgliedstaaten mit dem Quadratwurzel-Modell zum Teil erheblich besser stellen als beim Modell der "doppelten Mehrheit". So wäre der Stimmenanteil der 11 kleinsten EU-Staaten beim Quadratwurzel-Modell teilweise um ein mehrfaches größer als ihr Bevölkerungsanteil bei der "doppelten Mehrheit" des Verfassungsvertrags (Luxemburg: + 689 Prozent; Malta: + 725 Prozent). Trotz dieses Zuwachses bleibt der Stimmenanteil der kleineren Mitgliedstaaten dennoch weit kleiner als das Gewicht der mittleren und größten EU-Staaten. Egal, welches Modell zugrunde gelegt wird, das relative Gewicht der kleineren Mitgliedstaaten würde weiterhin aus der Tatsache ihrer Mitgliedschaft resultieren und nicht aus ihrer Bevölkerungsgröße.
  • Relative Schwächung Polens gegenüber den mittleren und kleineren EU-Staaten: Der relative Anteil der Stimmen der mittleren und kleineren EU-Staaten wäre im direkten Vergleich zu Polen beim Quadratwurzel-Modell größer als ihr Bevölkerungsanteil bei der "doppelten Mehrheit". Polen würde sich damit im Vergleich zu den 21 kleineren Mitgliedstaaten beim Quadratwurzel-Modell relativ schlechter stellen als bei der "doppelten Mehrheit".
  • Schwächung der sechs größten EU-Staaten: Die sechs großen Mitgliedstaaten (Deutschland, Vereinigtes Königreich, Frankreich, Italien, Spanien, Polen) wären beim Quadratwurzel-Modell in der Summe betrachtet schlechter gestellt als bei der "doppelten Mehrheit". Gemäß Verfassungsvertrag würden die sechs Großen bei Mehrheitsentscheidungen im Ministerrat insgesamt mehr als 70 Prozent der EU-Gesamtbevölkerung stellen, beim Quadratwurzel-Modell dagegen knapp über 47 Prozent der Stimmen. Bei der "doppelten Mehrheit" könnten die drei bzw. vier größten Mitgliedstaaten (Deutschland, Vereinigtes Königreich, Frankreich, Italien) gemeinsam aufgrund ihres Bevölkerungsanteils eine Entscheidung im Ministerrat verhindern. Beim Quadratwurzel-Modell müssten sich mindestens fünf oder sechs größten Mitgliedstaaten zusammen tun, je nachdem welches Quorum letztlich festgelegt werden würde.
  • Schwächung des größten EU-Staates: Im Quadratwurzel-Modell verliert Deutschland als größtes Land der EU im Vergleich zur "doppelten Mehrheit" am stärksten an Einfluss, da mit dem Quadratwurzel-Modell die Bedeutung des einzelnen Staates bei der Stimmgewichtung wieder zunimmt, während die Bevölkerungsgröße als Stimmkriterium an Bedeutung verliert. Deutschland hätte es schwerer, Blockadekoalitionen zu bilden und Entscheidungen zu verhindern. Deutschland müsste sich für eine Blockade mehr Verbündete suchen als bei der "doppelten Mehrheit". Abgesehen davon, dass es hier um eine Entscheidung geht, die das nicht einfache Verhältnis zwischen Polen und Deutschland berührt und die symbolisch aufgeladen ist, steckt hinter der polnischen Forderung ein handfestes Interesse. Polen ist der größte Netto-Empfänger der Europäischen Union, Deutschland der größte Netto-Zahler. Um auch weiterhin maximal von EU-Geldern profitieren zu können, ist es für Polen von Interesse, dass Deutschland Entscheidungen im Finanzbereich nur schwer dominieren kann. Auch vor diesem Hintergrund ist das Quadratwurzel-Modell zu sehen.

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