Europa im Wandel. Scheitert die erweiterte Union an zu hoch fliegenden Erwartungen?
Janis A. Emmanouilidis
Internationale Politik, Nr. 4, Vol. 59, pp. 97-100
04/2004
Der Konvent zur Zukunft Europas, der Integrationsprozess, die Sicherheit des Kontinents und seine Wirtschaft sind Gegenstand von fünf Neuerscheinungen, die hier vorgestellt werden.
Das Gesicht Europas verändert sich gewaltig; nach den Umbrüchen der letzten 15 Jahre und mit der anstehenden Erweiterung der Europäischen Union um zehn neue Mitgliedstaaten zum 1. Mai 2004 bieten sich dem alten Kontinent enorme Möglichkeiten. Gleichzeitig ist es aber noch ungewiss, ob dieses neue große Europa mit seinen 25 und in absehbarer Zeit noch mehr Mitgliedstaaten nach innen und außen überhaupt wird erfolgreich operieren können, oder ob es am Ende nicht vielmehr an einer zu hoch fliegenden Erwartungshaltung scheitert.
Die Europäer haben es in weiten Teilen selbst in der Hand, ob die EU-25+ den anstehenden Herausforderungen gerecht werden kann. Das Schicksal des europäischen Verfassungsprojekts ist dabei eine zentrale Erfolgsdeterminante. Das Ende des verfassungsgebenden Prozesses ist nach dem vorläufigen Scheitern des Brüsseler Gipfels im Dezember 2003 noch unklar. Grundlage für die seit Oktober 2003 laufenden Beratungen in der Regierungskonferenz war und ist der im Juli 2003 vorgelegte Entwurf eines „Vertrags über eine Verfassung“. Dieser Verfassungsentwurf, der eine umfassende Neuordnung und Revision der geltenden Verträge vorsieht, war das Ergebnis von 17 Monaten mühevoller Arbeit im Rahmen des Europäischen Konvents. Nach der ernüchternden Erfahrung der Regierungskonferenz von Nizza hatten die Staats- und Regierungschef beim Laekener Gipfel im Dezember 2001 die 105 Mitglieder des Konvents und ihre Stellvertreter damit beauftragt, einen Entwurf zur Reform des europäischen Primärrechts vorzulegen.
Mit der Arbeit dieses Konvents beschäftigt sich das neueste Buch des langjährigen EU-Beobachters Peter Norman.Auf insgesamt 400 Seiten eröffnet der international erfahrene Journalist einen profunden Einblick in den verfassungsgebenden Prozess. In chronologischer Reihenfolge analysiert er die einzelnen Abschnitte der Konventsarbeit, von seiner konstituierenden Phase zu Beginn des Jahres 2002 über die Präsentation eines ersten Verfassungsgerüsts und die Etablierung von Arbeitsgruppen im Herbst 2002 bis hin zu den abschließenden Beratungen im Juni/Juli 2003. Der Autor berichtet über den Verlauf der Debatten und beschreibt nicht nur, welche Gruppen und Persönlichkeiten die Arbeit des Konvents bestimmt haben, sondern untersucht auch die Vor- und Nachteile der dort diskutierten Einzelvorschläge.
Besonders interessant ist das Kapitel über die Abschlussphase der Konventsarbeit nach dem EU-Sondergipfel im April 2003; in dieser Phase wurden die Verhandlungen immer undurchsichtiger. Die Entscheidungen über zentrale Elemente der Verfassung verlagerten sich zusehends aus dem öffentlichen Raum hinter die verschlossenen Türen der engsten Zirkel im Konvent. Dem 13-köpfigen Präsidium unter der Führung von Valéry Giscard d’Estaing und seinen beiden Stellvertretern, Jean-Luc Dehaene und Giuliano Amato, kam dabei die Hauptrolle zu. Inhaltlich ging es in den letzten Monaten und Wochen vornehmlich um die künftige institutionelle Architektur und damit letztlich um die Machtverteilung in einer EU der 25 und mehr Mitgliedstaaten.
Auch für interessierte Beobachter war es von diesem Zeitpunkt an kaum noch möglich, die Entscheidungsprozesse im Detail nachzuvollziehen. Und genau darin liegt ein besonderer Wert des Buches. Peter Norman verfügt über das Insiderwissen, um dem Leser einen detaillierten Einblick in die innersten Entscheidungszirkel des Konvents zu öffnen. Besonders interessant wird es, wenn er über jene Momente berichtet, in denen der Erfolg des Konvents auf der Kippe stand. So beschreibt er die Situation Ende April 2003, als Giscard ohne Absprache im Konventspräsidium erste konkrete Vorschläge zur künftigen institutionellen Grundarchitektur der EU vorlegte. Giscards Entwurf erschütterte das Gremium, legte aber zugleich den Grundstein für die spätere Einigung zwischen den Verfechtern eines intergouvernementalen gegen ein supranationales Europa. Besonders detailliert schildert Norman auch die für den Konventsprozess entscheidenden Tage Anfang Juni 2003, als der Verfassungsentwurf zu einem Optionenpapier ohne politisches Gewicht zu werden drohte. Norman beschreibt die Dynamik der Verhandlungsprozesse und zeigt auf, welche und wie einflussreiche Gruppen und Individuen den finalen Entwurf beeinflusst haben.
Insgesamt eröffnet das in verständlicher Sprache geschriebene Buch dem Leser einen detaillierten Einblick in die Arbeit des Konvents. Peter Normans Werk ist aber nicht nur wertvoll als eindrucksvolle Dokumentation der Zeitgeschichte. Das Buch verdeutlicht auch, zu welchen Integrationsschritten die Mitgliedstaaten und EU-Institutionen bereit sind und wo die Grenzen der Integration gegenwärtig liegen. Damit liefert seine Analyse Indizien dafür, ob die EU-25+ den globalen und europäischen Herausforderungen gerecht werden kann.
Genau diesem Punkt widmet sich auch ein neuer, von Johannes Varwick und Wilhelm Knelangen herausgegebene Sammelband. Bereits dessen Titel „Neues Europa – alte EU?“ verdeutlicht die zentrale Fragestellung der beiden Kieler Politikwissenschaftler: Wird die EU die Kraft aufbringen, um den veränderten Rahmenbedingungen des „neuen Europas“ gerecht zu werden? Oder wird sich die „alte EU“ nicht ausreichend genug reformieren, um den Anforderungen der Moderne zu entsprechen?
Diesen Fragen widmen sich insgesamt 25 Beiträge, die eine breite thematische Palette, angefangen mit der Zwischenbilanz des Euros über die Unionsbürgerschaft bis hin zu den Perspektiven einer europäischen Medienpolitik abdecken. Zu Beginn des Buches werden grundsätzliche Fragen mit Blick auf den Bestand und die Zukunft der europäischen Integration aufgeworfen. Dabei werden unter anderem die Perspektiven des Europäischen Konvents als Reformmethode der Zukunft (Claus Giering), das Demokratiedefizit innerhalb der Europäischen Union (Andreas Maurer) oder die sicherheitspolitische Rolle Europas als globale „Friedensmacht“ (Hans-Georg Ehrhart) thematisiert. Johannes Varwick untersucht zudem die grundsätzlichen Entwicklungsperspektiven einer großen EU. Am wahrscheinlichsten erscheint ihm dabei weder eine Staatswerdung noch eine Erosion der Union, sondern vielmehr ein „Muddling-Through“-Szenario. Im Ergebnis wäre die EU demnach ein „unvollkommenes, reformbedürftiges, kompliziertes politisches Gebilde sui generis, das dennoch für seine Mitgliedstaaten und seine Bürgerinnen und Bürger wie auch für die Stabilität des Kontinents unverzichtbar ist“.
Welche Staaten oder mitgliedstaatliche Koalitionen die Geschicke der EU künftig bestimmen werden und wie sich das Verhältnis der Union zu gewichtigen internationalen Partnern entwickeln wird, diesen Dingen widmen sich die abschließenden Beiträge des Sammelbands. Zu Recht erfährt dabei die Frage nach der künftigen Führungsfähigkeit bestimmter Mitgliedstaaten besondere Aufmerksamkeit. In einer EU-25+, in der sich die Abstimmungsprozesse enorm verkomplizieren und das geopolitische Gewicht sich in Richtung Osteuropa bewegt, gewinnt die Frage nach der Qualität der politischen Führung zunehmend an Bedeutung. Dabei werden sich traditionelle Führungsmuster verändern und neue Führungskoalitionen bilden.
So beschreibt Ulrike Guérot die Veränderungen im europapolitischen Tandem Frankreich-Deutschland. Die Autorin fordert Berlin und Paris dazu auf, sich über die geostrategische Zukunft der EU zu verständigen. Dabei sollte laut Guérot im deutsch-französischen Führungstandem Konsens darüber gesucht und gefunden werden, wer letztlich dem Club der EU angehört und wer nicht. Eine besonders aktuelle Forderung angesichts der Tatsache, dass bis Ende 2004 eine Entscheidung darüber getroffen werden muss, ob und wann die Union Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aufnimmt.
Neben der Achse Berlin-Paris gewinnen die deutsch-polnischen Beziehungen zunehmend an Bedeutung. Dabei erscheinen Kai-Olaf Lang zwei mögliche Kooperationsszenarien wahrscheinlich. Entweder entwickelt sich die Achse Berlin-Warschau zu einem neuen europäischen Scharnier und Deutschland unterstützt die polnischen Bemühungen, sich im Innern der europäischen Macht zu etablieren. Oder diverse bilaterale Dissonanzen verhindern die Entwicklung eines strategischen Duos, und das deutsch-polnische Verhältnis mündet in einer Form der pragmatischen Kooperation. Lang ist der Ansicht, dass die ersten Jahre der polnischen EU-Mitgliedschaft die Qualität der Beziehungen zwischen beiden Länder bestimmen werden. Falls dem so sein sollte, sind die anfänglichen heftigen Meinungsverschiedenheiten zwischen Berlin und Warschau hinsichtlich der künftigen Abstimmungsverfahren im EU-Ministerrat keine positiven Vorboten für die Zukunft der Führungsachse Berlin-Warschau.
Der aus Anlass des 60. Geburtstags des an der Universität Münster lehrenden Politikwissenschaftlers und Europa-Forschers Wichard Woyke entstandene Sammelband überzeugt nicht nur durch die Qualität seiner Beiträge. Bemerkenswert ist vor allem die Tatsache, dass auch jene Aspekte der europäischen Integration thematisiert werden, die ansonsten in der EU-Debatte zu kurz kommen. Dadurch vermittelt die Lektüre des Buches auch dem Laien einen guten Überblick über den gegenwärtigen Zustand der EU. Zu kritisieren ist lediglich, dass die beiden Herausgeber die Frage, die sie selbst zu Beginn der Buches aufgeworfen haben, nämlich ob die alte EU den Herausforderungen des neuen Europas künftig genügen wird, am Ende nicht beantworten. Aber hierzu bedarf es wohl auch hellseherischer Fähigkeiten.
Darüber hinaus sei auf einige weitere interessante Neuerscheinungen hingewiesen, die das große Europa zum Gegenstand haben. So beschäftigen sich die Autoren eines von Karl von Wogau herausgegebenen Bandes mit den Optionen europäischer Verteidigungspolitik „auf dem Weg zur Europäischen Verteidigung“. Jürgen Kluge und Heino Faßbender untersuchen in ihrem Buch über die „Wirtschaftsmacht Europa“, wie das wirtschaftliche Potenzial Europas ausgeschöpft werden kann. Wolfgang Wessels, Andreas Maurer und Jürgen Mittag analysieren, wie Europa-Politik bei der EU und in den Mitgliedstaaten konzipiert, formuliert und umgesetzt wird und wie die Interaktionen zu einem „System der institutionellen Fusion“ führen.
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