"Erwartungen an Deutschland besonders hoch"

Sophie Greve and Matthias Klein, AufRuhr, 30.06.2020

Interview

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Am 1. Juli übernimmt Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft. Die Coronakrise werde prägendes Thema sein, sagt EU-Experte Janis Emmanouilidis vom European Policy Centre im Interview. „Deutschland wird seiner europäischen Führungsrolle gerecht werden müssen."

Frage: Momentan bestimmt ein Thema Europa. Nun übernimmt Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft – wird das eine reine „Corona-Präsidentschaft", Herr Emmanouilidis?

Janis Emmanouilidis: Die unterschiedlichen Facetten der Coronakrise werden die deutsche EU-Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2020 eindeutig prägen und in vielerlei Hinsicht dominieren. Vor allem in den ersten Monaten wird die deutsche Präsidentschaft sich darauf fokussieren müssen, ihren Teil dazu beizutragen, ein Einvernehmen hinsichtlich des neuen mehrjährigen Finanzrahmens (MFR) und des umfangreichen Wiederaufbauprogramms unter den 27 EU-Mitgliedsstaaten zu erzielen. Die Europäische Kommission hat Ende Mai diesbezüglich detaillierte Vorschläge unterbreitet. Diese Vorschläge sehen einen Budgetrahmen für 2021 bis 2027 in Höhe von 1,1 Billionen Euro sowie ein äußerst umfangreiches Corona-Wiederaufbauprogramm in Höhe von 750 Milliarden Euro vor.

Grundsätzlich ist man sich einig, dass die 27 EU-Regierungen angesichts der ökonomischen Herausforderungen der Coronakrise einen Kompromiss finden müssen. Doch das virtuelle Treffen der Staats- und Regierungschefs am 19. Juni hat erneut aufgezeigt, wie groß die Differenzen zwischen den Mitgliedstaaten noch sind. Die deutsche Ratspräsidentschaft kann ab dem 1. Juli einen wesentlichen Beitrag dazu leisten, die bestehenden Divergenzen auf der höchsten politischen Ebene zu überwinden, auch wenn dies eindeutig keine einfache Aufgabe sein wird.

Frage: Das Virus hat die Pläne der Bundesregierung durchkreuzt. Wie schätzen Sie das ein: Werden andere Themen, wie beispielsweise der Klimaschutz oder die Beziehungen zu Großbritannien nach dem Brexit, nun in den Hintergrund rücken?

Emmanouilidis: Verglichen zum ursprünglichen Programm der deutschen Ratspräsidentschaft werden gewisse Themen definitiv weniger im Fokus stehen als ursprünglich geplant. Doch die Bereiche Klimaschutz und Digitalisierung stehen auch weiterhin ganz oben auf der EU-Agenda. Im Rahmen der Verhandlungen zum mehrjährigen Finanzrahmen und zum Wiederaufbauprogramm werden sie eine besondere Rolle spielen; dies wird sich am Ende wohl auch in den Schwerpunkten des finalen Budgetkompromisses niederschlagen.

Eine weitere Priorität, die auf der Agenda der deutschen Ratspräsidentschaft stehen wird, ist der Themenkomplex Migration und Asyl. Die Kommission wird diesbezüglich neue Vorschläge im Rahmen eines sogenannten „neuen Pakts" unterbreiten, die dann auch unter deutschem Vorsitz im EU-Ministerrat beraten werden. Beim Thema Brexit wird es in den kommenden Monaten darum gehen, eine Verständigung über das künftige Verhältnis zwischen dem Vereinigten Königreich und den EU27 zu erreichen. Derzeit kommen die Verhandlungen nur äußerst mühsam voran und es besteht die reale Gefahr, dass beide Seiten bis zum Ende der Übergangszeit, die im Dezember ausläuft, keine Einigung finden werden. Die deutsche Ratspräsidentschaft kann einen wesentlichen Beitrag dazu leisten, dies zu verhindern – vorausgesetzt, dass die Regierung von Premierminister Boris Johnson politisch tatsächlich dazu bereit sein wird.

Frage: Wie groß ist der Handlungsspielraum Deutschlands durch die Ratspräsidentschaft überhaupt?

Emmanouilidis: Die Rolle der rotierenden Ratspräsidentschaft hat sich seit dem Inkrafttreten des Lissaboner Vertrages vor mehr als zehn Jahren maßgeblich verändert. Der Handlungsspielraum und die institutionelle Bedeutung der Präsidentschaft sind wesentlich geringer als in der Vergangenheit. Doch angesichts der immensen Herausforderungen im Kontext der Coronakrise sind die Erwartungen an die deutsche Präsidentschaft außergewöhnlich hoch. Deutschland kann in den nächsten sechs Monaten dazu beitragen, schwierige Kompromisse der EU27 zu befördern. Dabei wird Berlin mehr sein müssen als nur ein „ehrlicher Makler" und „Brückenbauer". Deutschland wird seiner europäischen Führungsrolle gerecht werden müssen, wenn die EU und ihre Mitgliedstaaten die vielfältigen negativen Folgen der aktuellen Krise meistern möchten.

Die gemeinsame europapolitische Initiative, die Frankreich und Deutschland im Mai auf dem Weg gebracht haben, weist in die richtige Richtung. Die Geschichte der europäischen Integration ist voller Belege dafür, dass nur wenn Berlin und Paris an einem gemeinsamen Strang ziehen, nachhaltige Entscheidungen und Reformen im Rahmen der EU beschlossen und umgesetzt werden können. Dazu gehört auch, dass Deutschland und Frankreich ihr gemeinsames politisches Gewicht in die Waagschale werfen, um sicherzustellen, dass die „Konferenz zur Zukunft Europas" bis zum Ende der deutschen Ratspräsidentschaft ihre Arbeit aufnimmt und bis zum Ende der französischen Präsidentschaft im ersten Halbjahr 2022 konkrete Reformvorschläge unterbreitet.

Nach den fundamentalen Krisen der Vergangenheit zeigt auch die aktuelle Coronakrise, dass die EU institutionell und politisch weiterentwickelt werden muss. Dieser Prozess kann nur dann ein Erfolg werden, wenn die Bürger Europas an diesem Veränderungsprozess im Rahmen der Zukunftskonferenz aktiv mitwirken können.

Frage: Man kann den Eindruck bekommen, dass durch die Maßnahmen in der Coronakrise der Zusammenhalt in Europa bedroht ist. Wie schätzen Sie das ein?

Emmanouilidis: Die Coronakrise ist definitiv eine Herausforderung für den Zusammenhalt innerhalb der Europäischen Union. Der Anfang der Krise war geprägt von nationalen Alleingängen. Koordination und Solidarität waren vor allem in den ersten Wochen der Krise Mangelware. Die Wiedereinführung von Personenkontrollen, kilometerlange Warteschlangen an den Gütergrenzen, die Einführung von Exportkontrollen bei medizinischen Produkten sowie insgesamt die unzureichende Zusammenarbeit auf der europäischen Ebene haben die Kohäsion unter den Mitgliedstaaten in Frage gestellt und geschwächt. Auch wenn sich die Zusammenarbeit auf der europäischen Ebene in den letzten Monaten eindeutig verbessert hat, so kann man aus heutiger Perspektive noch nicht sagen, wie fundamental sich die Krise auf den Zusammenhalt Europas letztlich auswirken wird.

In den vergangenen zehn Jahren haben diverse Krisen, wie die Eurokrise oder die Migrationskrise, bereits zu einem erheblichen Misstrauen unter den EU-Mitgliedstaaten geführt. Bisher war die EU immer widerstandsfähig genug, um auch fundamentale Herausforderungen zu meistern. Doch es wäre leichtfertig, davon auszugehen, dass die Resilienz Europas immer wieder stark genug sein wird, um die Existenz des europäischen Integrationsprojekts zu gewährleisten. Die Arbeit am „Projekt Europa" ist eine kontinuierliche Aufgabe und wir befinden uns noch lange nicht am Ende des Prozesses.

Frage: Könnte Deutschland die Ratspräsidentschaft nutzen, um etwas für den Zusammenhalt zu tun?

Emmanouilidis: Ja, die deutsche Ratspräsidentschaft könnte einen wesentlichen Beitrag dazu leisten, den Zusammenhalt in Europa zu stärken. In den kommenden Monaten wird sich zeigen, ob die EU und ihre Mitgliedstaaten individuell und gemeinsam in der Lage sein werden, den beispiellosen ökonomischen Folgen der Krise erfolgreich entgegenzuwirken. Dies ist eine Herausforderung, der sich die Staaten Europas gemeinsam stellen müssen.

Wenn es Berlin in Zusammenarbeit mit der Europäischen Kommission, dem Europäischen Rat und dem Europäischen Parlament gelingt, eine Einigung über den künftigen mehrjährigen EU-Budgetrahmen inklusive eines gemeinsamen Wiederaufbauprogramms zu finden, wäre dies ein großer Schritt in die richtige Richtung. In der aktuellen Situation wird es vor allem darum gehen, dass diejenigen Länder, Regionen und Wirtschaftssektoren, die besonders hart von der Coronakrise betroffen sind, möglichst zügig und umfassend von der EU finanziell unterstützt werden. Dies wäre ein wichtiges Zeichen der europäischen Solidarität, und Deutschland kann in seiner Rolle als EU-Ratspräsident einen maßgeblichen Beitrag dazu leisten, diesem Ziel näherzukommen.

Frage: Auch der Wettbewerb zwischen den global playern USA und China ändert sich durch Corona. Welche Rolle wird die EU zukünftig spielen?

Emmanouilidis: Ich gehe davon aus, dass Europa in Zukunft noch mehr Eigenverantwortung übernehmen muss. Die wachsende geo-ökonomische und geo-politische Konfrontation zwischen den USA und China wird die EU und ihre Mitgliedstaaten zunehmend unter Druck setzen. Und keines der Länder Europas ist und wird auch nicht in Zukunft in der Lage sein, den anstehenden regionalen und globalen Herausforderungen alleine gerecht zu werden.

Im Kontext der aktuellen Krise und angesichts der sich verändernden globalen Machtverhältnisse wird der Druck auf Europa zunehmen. In gewissen Situationen wird Europa zwischen die Fronten geraten und gerade in diesen schwierigen Situationen sollte die EU als kollektiver Akteur eine größere Rolle spielen. In der Vergangenheit sind wir als Europäer diesem Anspruch oft nicht gerecht geworden. In einem konfrontativeren globalen Umfeld sollte sich das ändern. Wenn wir als Europäer unsere Interessen effektiv vertreten wollen, wenn wir auf der globalen Bühne wahrgenommen werden möchten, wird das nur möglich sein, wenn wir mit einer Stimme sprechen und unsere Interessen gemeinsam vertreten – nicht nur in schönen Sonntagsreden, sondern auch wenn es auf der internationalen Bühne hart auf hart geht.

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