„Rede vor dem Parlament war entscheidend“

Matthias Klein, AufRuhr, 17.07.2019

Interview

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374 Stimmen waren nötig, sie erhielt 383: Das Europaparlament hat Ursula von der Leyen zur neuen Kommissionspräsidentin gewählt. Sie habe die Gelegenheit genutzt, die Abgeordneten für sich zu gewinnen, sagt Janis A. Emmanouilidis, Director of Studies beim European Policy Centre. Nun müsse sie ihre Vorschläge präzisieren.

Matthias Klein: Ursula von der Leyen hat sich vor der Abstimmung in den Fraktionen vorgestellt und eine Rede vor dem Parlament gehalten. Wie sehr konnte sie damit die Wahl beeinflussen, Herr Emmanouilidis?

Janis Emmanouilidis: Die erste Rede, die Ursula von der Leyen im Parlament gehalten hat, war eine gute und letztlich auch für den Ausgang der Wahl entscheidende Rede. Dabei ist es ihr wesentlich besser als unmittelbar nach der Nominierung durch die europäischen Staats- und Regierungschefs gelungen, die politischen Schwerpunkte ihrer Arbeit als Kommissionspräsidentin darzustellen, auch wenn sie in Zukunft noch konkreter werden muss. Gleichzeitig hat sie auch die Gelegenheit genutzt, die EU-Parlamentarier sowie eine breitere Öffentlichkeit für sich zu gewinnen. Viele außerhalb Deutschlands kannten beziehungsweise kennen Frau von der Leyen nicht und sie hat mit ihrer Rede gezeigt, dass sie eine überzeugte Europäerin ist, die sich mit vollem Engagement für das „Projekt Europa" einsetzen möchte. Ihre Rede hat sicherlich unentschlossene Abgeordnete noch davon überzeugt, für sie zu stimmen. Nachdem das Ergebnis der Abstimmung mit 383 Stimmen denkbar knapp ausgefallen ist – die Mehrheit lag bei 374 Stimmen –, wissen wir im Nachhinein, wie wichtig das gewesen ist.

Matthias Klein: Was glauben Sie, welche Auswirkungen wird das auf die Arbeit des Europaparlaments haben?

Emmanouilidis: Grundsätzlich wird die Arbeit des Europäischen Parlaments (EP) in den kommenden Jahren sicherlich nicht einfacher. Das neue Parlament ist wesentlich fragmentierter als in der Vergangenheit. Im Gegensatz zur letzten Legislaturperiode (2014-2019) gibt es keine breite Koalition. Vor fünf Jahren konnten sich Konservative, Sozialisten und Liberale auf ein gemeinsames Programm einigen. Heute erschweren die komplexeren Mehrheitsverhältnisse dieses Ansinnen.

Matthias Klein: Auch innerhalb der Fraktionen wurde intensiv über die Personalie diskutiert. Was glauben Sie, welche Auswirkungen wird das auf die Arbeit des Europaparlaments haben?

Emmanouilidis: Grundsätzlich wird die Arbeit des Europäischen Parlaments (EP) in den kommenden Jahren sicherlich nicht einfacher. Das neue Parlament ist wesentlich fragmentierter als in der Vergangenheit. Im Gegensatz zur letzten Legislaturperiode (2014-2019) gibt es keine breite Koalition. Vor fünf Jahren konnten sich Konservative, Sozialisten und Liberale auf ein gemeinsames Programm einigen. Heute erschweren die komplexeren Mehrheitsverhältnisse dieses Ansinnen.

Und grundsätzlich sollte man sich immer bewusst sein, dass die Kompetenzen und finanziellen Möglichkeiten der Kommission begrenzt sind. Sie ist keine „europäische Regierung", die die Geschicke des Kontinents in ihren Händen hält. Sie ist letztlich abhängig von der Bereitschaft nationaler Regierungen, Entscheidungen mitzutragen und umzusetzen. Was das Europaparlament angeht, so haben die Parlamentarier in den letzten Jahrzehnten zwar kontinuierlich an Legislativmacht gewonnen. Doch die strategische Rolle des Parlaments in der Machtarchitektur Europas ist eher geschwächt. Und die Tatsache, dass die pro-europäischen Kräfte im EP dieses Mal nicht in der Lage waren, sich auf einen gemeinsamen Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten zu einigen, wird die strategische Relevanz des Parlaments noch weiter belasten.

Matthias Klein: Einige Kommentatoren kritisierten, die Kür von der Leyens sei in Hinterzimmern erfolgt. Was bedeutet das mit Blick auf die Demokratie der EU?

Emmanouilidis: Ursula von der Leyen wurde einstimmig von den Staats- und Regierungschefs nominiert und mit einer absoluten Mehrheit des Europäischen Parlaments gewählt. Damit hat sie eine breite Legitimations- und Machtbasis, die sie in den kommenden Jahren politisch für sich und ihre Institution nutzen kann. Es ist wahr, dass im Gegensatz zu 2014 dieses Mal keiner der Spitzenkandidaten Kommissionspräsident geworden ist. Keiner der Kandidaten hatte eine ausreichende Mehrheit im Parlament und im Europäischen Rat. Dies hat letztlich dazu geführt, dass die Staats- und Regierungschefs Entscheidungen getroffen haben hinsichtlich der künftigen Zusammensetzung der EU-Führungsriege. All dies entsprach den Regeln der europäischen Verträge, auch wenn man natürlich zurecht anmahnen kann, dass es besser gewesen wäre, wenn der neue Kommissionspräsident aus dem Kreis der Spitzenkandidaten nominiert worden wäre. Schuld daran, dass es nicht dazu gekommen ist, haben viele der beteiligten Akteure.

Aber jetzt sollte es darum gehen, den Blick nach vorne zu richten und die richtigen Lehren aus den Erfahrungen der letzten Tage, Wochen und Monate zu ziehen. Sicher ist: Der Prozess muss reformiert werden und notwendige Reformen sollten vor der nächsten Europawahl 2024 entschieden und umgesetzt werden. Um diesen Weg bereits jetzt verbindlich einzuleiten, sollten Kommission, Parlament und (Europäischer) Rat sich möglichst bald über ein inter-institutionelles Mandat verständigen.

Matthias Klein: Wie schätzen Sie das ein: Wie wird die Politik der EU inhaltlich mit der Kommissionschefin von der Leyen aussehen?

Emmanouilidis: Es gibt äußerst viele Herausforderungen, die im Zusammenspiel von EU und Mitgliedstaaten in den kommenden Jahren angegangen werden müssen. Ursula von der Leyen hat bereits aufgezeigt, welche Felder aus ihrer Sicht von besonderer Bedeutung sind. Dazu gehören die Bereiche Umwelt, Wirtschaft, Migration und Digitalisierung genauso wie die Themen Rechtsstaatlichkeit, innere Sicherheit und Europas künftige Rolle in der Welt.

Doch die designierte Kommissionspräsidentin muss ihre Überlegungen und Vorschläge in den kommenden Wochen und Monaten noch weiter präzisieren. Auch im Europaparlament erwarten viele, dass sie vor der finalen Abstimmung über das gesamte Kommissionskollegium im Oktober noch klarer zum Ausdruck bringen wird, welche Prioritäten die Kommission von der Leyen verfolgen wird. In den kommenden Wochen wird es darüber hinaus auch darum gehen, das neue Kommissionsteam zusammenzustellen. Dies wird keine einfache Aufgabe angesichts der Tatsache, dass die neue Kommissionspräsidentin bereits versprochen hat, dass das Kollegium paritätisch besetzt werden soll – doch viele Regierungen scheuen sich noch, weibliche Kandidatinnen für die neuen Kommission zu nominieren. Diesbezüglich wird von der Leyen noch entsprechenden Druck auf die Hauptstädte ausüben müssen.

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