„Grüne Themen werden verankert“
Aufruhr Magazin (Mercator Stiftung), 06.06.2019
Interview
Nach der Europawahl stehen in Brüssel nun umfangreiche Verhandlungen an. Durch das fragmentierte Parlament werde es länger dauern, bis sich eine Koalition findet, sagt Janis A. Emmanouilidis, Director of Studies beim European Policy Centre. Er glaube, dass ein breites pro-europäisches Bündnis aus vier Fraktionen gute Chancen habe.
Frage: Herr Emmanouilidis, die Wahl zum Europäischen Parlament liegt nun einige Tage zurück. Wie ist die Stimmung in Brüssel?
Janis Emmanouilidis: Im Moment ist es etwas ruhiger in Brüssel. Es ist die Ruhe vor dem nächsten Sturm – vieles muss nun auf der Basis der Wahlergebnisse entschieden werden. Das wird einige Tage, Wochen, eventuell sogar Monate dauern.
Frage: Jetzt mit etwas Abstand: Waren die Wahlergebnisse aus Ihrer Sicht überraschend?
Emmanouilidis: Vieles war erwartet, aber wir haben auch Überraschungen erlebt. Die größte und wichtigste Überraschung war die Wahlbeteiligung, die nun bei ca. 51 Prozent liegt im Gegensatz zu 42,6 Prozent vor fünf Jahren. Auch hier in Brüssel hatten viele gehofft, dass sie steigt, aber dass sie dermaßen nach oben geht, hat niemand erwartet. Zumal man ja sehen muss, dass es eine Trendumkehr ist: Seit der ersten Europawahl 1979 ging die Wahlbeteiligung beständig zurück. Und nun ist sie in gleich 21 Ländern gestiegen, der Trend ist eindeutig. Diesmal sind viele zur Wahl gegangen, weil sie die Stimmabgabe als Signal für Europa in Zeit der Unsicherheit innerhalb und außerhalb des Kontinents empfunden haben. Die Statistiken zeigen, dass auch viele Nichtwähler*innen gewählt haben. Hinzu kamen nationale Gründe. In Polen und Griechenland wurde die Europawahl beispielsweise als starkes Zeichen für die bevorstehenden nationalen Wahlen gesehen.
Frage: Wie sehr haben Sie die Ergebnisse für die Parteien überrascht?
Emmanouilidis: Wie erwartet haben sowohl Konservative als auch Sozialdemokraten Mandate eingebüßt, die Prognosen waren bereits in diese Richtung gegangen. Relativ überraschend war der deutliche Zugewinn der Grünen, die nun um die 70 Abgeordnete stellen werden. Das ist erheblich mehr als erwartet. Der Grund dafür ist, dass in vielen Staaten die grüne Agenda den Wahlkampf bestimmt hat, längst nicht nur in Deutschland. Interessant ist übrigens, dass die Grünen vornehmlich in Westeuropa so stark Stimmen hinzugewonnen haben, man kann sagen: Es gibt eine „grüne Welle" in Westeuropa, aber eine „grüne Wüste" in Ost- und Südeuropa.
Auch die rechtspopulistischen, nationalistischen Kräfte haben in vielen Mitgliedstaaten gut abgeschnitten, vor allem in Ungarn, Italien, Polen oder Frankreich. Aber es hielt sich wie erwartet doch in Grenzen. Vor der Wahl gab es hier sehr viele Übertreibungen, dabei ist das Signal eindeutig: Die klare Mehrheit der Abgeordneten im Europaparlament ist weiter pro-europäisch.
Frage: Was bedeutet das Wahlergebnis für die Arbeit des Parlaments?
Emmanouilidis: Das Europaparlament ist fragmentierter. Die beiden größten Fraktionen, die Europäische Volkspartei und die Sozialdemokraten, haben nun zusammen keine Mehrheit mehr. Es wird daher länger als vor fünf Jahren dauern, eine Koalition zu bilden. Hinter den Kulissen haben die Gespräche begonnen, es ist kompliziert. Die potenziellen Koalitionspartner müssen Kompromisse finden bei inhaltlichen Fragen wie Migration und Umweltpolitik, bei der Besetzung der wichtigen Ämter und bei institutionellen Fragen. Ich gehe jedoch grundsätzlich davon aus, dass es den Versuch geben wird, eine breite pro-europäische Koalition zu bilden, der neben den beiden größten Fraktionen auch Liberale und Grüne angehören. Dafür gibt es zwei zentrale Gründe. Erstens wäre das ein sehr starkes anti-populistisches und anti-illiberales Signal. Und zweitens wäre es gut, weil Mehrheiten im Europaparlament traditionell volatil sind, Koalitionen sind nicht so stabil wie auf der nationalen Ebene.
Frage: Vor der Wahl versuchten Rechtspopulisten, eine gemeinsame Allianz zu bilden. Wie ist der Stand heute?
Emmanouilidis: Die Möglichkeiten einer langfristigen, pro-aktiven Zusammenarbeit sind meiner Einschätzung nach sehr beschränkt. Vor der Wahl hatten rechtspopulistische Kräfte eine starke Motivation, gemeinsam aufzutreten – denn das hat sie zu Hause gestärkt. Sie konnten argumentieren, dass sie gemeinsam in der Lage wären, die Europäische Union von innen heraus nach ihren Vorstellungen zu reformieren. Wenn es jedoch um die konkrete Sacharbeit auf EU-Ebene geht, haben wir in der Vergangenheit gesehen, dass Rechtspopulisten nicht in der Lage sind, dauerhaft konstruktiv zusammenzuarbeiten. Sie vertreten nach wie vor in zentralen Politikfeldern, wie beispielsweise der Migrationspolitik, unterschiedliche Ansätze und verfolgen divergierende Strategien im Umgang mit denen, die sie als Establishment bezeichnen. Hinzu kommt ihr stark nationalistischer Fokus, der eine internationale Zusammenarbeit grundsätzlich schwierig macht. Und außerdem darf man nicht vergessen, dass an der Spitze vieler dieser Parteien starke Persönlichkeiten stehen, ob das nun in Italien Matteo Salvini, in Frankreich Marine Le Pen oder Viktor Orbán in Ungarn ist – sie werden sich kaum in ein gemeinsames politisches Korsett einbinden, geschweige denn unterordnen.
Frage: Sie haben die Vergabe der Spitzenämter angesprochen, besonders prominent ist das Amt des Kommissionspräsidenten.
Emmanouilidis: Vor fünf Jahren war nach drei Tagen klar, dass Jean-Claude Juncker Kommissionspräsident wird. Das wird diesmal nicht so einfach. Meine Einschätzung: Die Spitzenkandidaten der europäischen Parteienfamilien werden eine Rolle spielen – aber ich gehe davon aus, dass der nötige Kompromiss der Parteien dazu führen wird, dass am Ende keiner von ihnen das Amt bekommt. Ich denke, die Entscheidung wird am Ende mit qualifizierter Mehrheit im Europäischen Rat fallen. Gerade sind viele Namen in der Diskussion.
Frage: Wird sich das Wahlergebnis auch auf die innenpolitische Situation in manchen Ländern auswirken, beispielsweise auf Italien?
Emmanouilidis: Ja, das ist in einigen Ländern so, darunter Italien. Das Verhältnis der Koalitionspartner Lega und Fünf-Sterne-Bewegung (Movimento 5 Stelle) hat sich umgekehrt. Nun ist die Lega für alle erkennbar nach den Zugewinnen bei den Europawahlen der starke Akteur. Das wird wohl dazu führen, dass die Koalition in Rom instabiler wird. Es ist davon auszugehen, dass Lega-Chef Salvini noch selbstbewusster auftreten wird. Was das für die Haushaltspolitik Italiens heißt, treibt in Brüssel gerade viele um. Wir haben in der Vergangenheit allerdings gesehen, dass der Druck der Märkte erheblich ist – insofern ist der Handlungsspielraum Salvinis begrenzt.
Frage: Und was bedeutet das Wahlergebnis für die inhaltliche Arbeit der kommenden Legislaturperiode?
Emmanouilidis: Wir werden unter anderem sehen, dass grüne Themen stärker verankert werden, sie stehen nun auf der Agenda des Europäischen Rats, des Parlaments und der Kommission. Es ist angedacht, dass es beim nächsten Gipfel Ende Juni unter den Staats- und Regierungschefs Einvernehmen über die Strategische Agenda für 2019 bis 2024 geben wird. Die Chancen dafür sind meiner Ansicht nach gut. Was das inhaltlich konkret heißt, lässt sich aber noch nicht sagen. Aber es wird sich etwas bewegen – denn der Druck ist da.
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