Kleinstes EU-Land mit großen Aufgaben

Martin Steinmüller, ORF, 02.01.2017

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Das scheidende Jahr hat der EU Überraschungen, Aufregungen und gleich mehrere Krisen beschwert. Und es sieht nicht danach aus, als ob 2017 viel ruhiger werden würde. Auch wenn sich das viele wünschen - allen voran wohl Malta, das in der ersten Jahreshälfte die EU-Ratspräsidentschaft übernehmen wird. [...]

Großer Druck lässt Unterschiede verschwinden

Zumindest der Brüsseler Politologe Janis Emmanouilidis glaubt das nicht. Für den EU-Experten des Thinktanks European Policy Center (EPC) liegt das einerseits an den Verträgen von Lissabon. Mit ihnen sei seit 2009 die Rolle der Ratspräsidentschaft ohnehin kleiner geworden. Andererseits - und das wiegt womöglich noch schwerer - verweist Emmanouilidis auf die aktuelle politische Situation.

In ruhigen Zeiten würden größere Staaten vielleicht eher versuchen, eigene Initiativen voranzutreiben. Aber „wenn es großen Druck gibt, ist es relativ egal, ob ein großes oder ein kleines Land die Ratspräsidentschaft innehat“, sagt der Politologe. Und Druck lastet zurzeit genug auf der EU. Da muss man noch nicht einmal von „Polykrisen“ sprechen, wie unlängst EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker.

„Brexit“-Start als Bewährungsprobe

Es reicht bereits, das vergangene Jahr Revue passieren zu lassen. Wer das tut, wird nicht um den politischen Paukenschlag zur Jahresmitte herumkommen. Ende Juni erklärte die Mehrheit der Briten, sich von der EU loslösen zu wollen. Richtig ernst wird es mit dem Austritt nun in diesem Jahr. Im März will die britische Regierung Artikel 50 des EU-Vertrags von Lissabon aktivieren - und den Austrittsprozess ganz formal einleiten. Für die 27 EU-Staaten - ohne Großbritannien - werde es entscheidend sein, gemeinsame Positionen zu finden, sagt der Politologe Emmanouilidis.

Das gilt umso mehr, als die Staats- und Regierungschef bereits erklärt haben, die Zügel bei den anstehenden Verhandlungen in der Hand halten zu wollen. Wenig Freude damit hat das EU-Parlament. Denn dass die Staats- und Regierungschef das Parlament „bestmöglich einbinden wollen“ - wie das EU-Ratspräsident Donald Tusk formulierte - ist den meisten EU-Abgeordneten schlicht zu wenig. Was sich die EU-Staaten also gar nicht leisten können, ist, sich auch noch in einen inneren Zwist zu verwickeln. Das zu verhindern werde auch Aufgabe der maltesischen Ratspräsidentschaft sein, so Emmanouilidis.

Frist für „effektive Solidarität“

Eine weitere Aufgabe haben die EU-Staats- und -Regierungschefs der kommenden Ratspräsidentschaft ganz offiziell am EU-Gipfel im Dezember umgehängt. „Effektive Solidarität“: Diesen Begriff vererbte der scheidende slowakische Ratsvorsitz der Union. Nach den Vorstellungen Bratislavas soll das Konzept die Lösung im Streit rund um die Aufteilung von Flüchtlingen in der EU bringen. Klar ist, dass sich die Staaten von fixen verpflichtenden Quoten so gut wie verabschiedet haben. Weniger klar ist dagegen, was unter „effektiver Solidarität“ im Detail zu verstehen ist.

Werden sich EU-Staaten in Zukunft tatsächlich von der Flüchtlingsaufnahme freikaufen können? Die Klärung dieser Frage soll nun die maltesische Ratspräsidentschaft übernehmen. Maltas Innenminister Carmelo Abela gab jedenfalls bereits zu bedenken: „Wenn wir Hunderttausende Migranten aufnehmen und die meisten anderen EU-Staaten uns nur Geld geben, werden wir untergehen.“ Und Politologe Emmanouilidis hält eine EU-weite Lösung der Asyl- und Flüchtlingskrise in Anbetracht der Differenzen für sehr unwahrscheinlich. „Die EU-Staaten werden auch im Juni 2017 weit weg von einer gemeinsamen Linie sein“, so der EU-Experte.

Demonstrierte und tatsächliche Einigkeit

Nach außen hin würden sich die Staaten aber umso mehr bemühen, Einvernehmen zu demonstrieren, vermutet Emmanouilidis. Eine große symbolische Einigkeitsbekundung steht bereits im ersten Jahresviertel an. Ende März feiert die EU in Rom das 60-jährige Bestehen der nach der Stadt benannten EU-Verträge. Die Feierlichkeiten sind zugleich die Deadline, welche sich die Staats- und Regierungschefs für ihren „Bratislava-Prozess“ gegebenen haben - Reformen, welche die EU nach dem „Brexit“ zusammenhalten sollen.

Im Februar werden - mit Ausnahme der britischen Premierministerin Theresa May - alle EU-Staats- und -Regierungschefs zu einem informellen Gipfel in Malta zusammenkommen. Denn zumindest konkrete Erklärungen müssten sie im März in Rom präsentieren, sagt Emmanouilidis. Ob diese dann auch umgesetzt werden, sei freilich noch einmal eine andere Frage. „Ob die Sonntagspredigten sich auch in den Montagsreden widerspiegeln? Da habe ich so meine Zweifel.“

„Riesenwahljahr“ als Bremse

Gegen große Reformen sprechen im kommenden Jahr nämlich noch drei, vielleicht sogar vier - im Grunde sehr nationale - Termine. In den Niederlanden, Frankreich und Deutschland wird 2017 fix gewählt. Und auch in Italien sind vorgezogene Parlamentswahlen wahrscheinlich. In allen Fällen rechnen Beobachter mit merklichen Zugewinnen für rechtsnationale beziehungsweise populistische Parteien.

In Anbetracht dieses Drucks würden die Regierungen dieser Länder zurzeit vor großen Schritten auf EU-Ebene zurückschrecken, sagt Emmanouilidis. Laut dem Politologen herrscht die Befürchtung, dass zu viel Engagement „nach hinten losgehen kann“. Das europäische „Riesenwahljahr“ dürfte so für europaweite Reformen und Kompromisse eher zur Bremse denn zum Antrieb werden.

EU-interne Neubesetzungen

Und noch zwei weitere Wahlen stehen der EU im kommenden Jahr ins Haus. Zum einen muss der Präsident des Europäischen Parlaments neu besetzt werden. Hier gilt vielen der EVP-Abgeordnete Antonio Tajani als aussichtsreichster Kandidat - auch wenn ihm seine Nähe zu Italiens Ex-Premier Silvio Berlusconi noch zum Stolperstein werden könnte. Wählen die EU-Abgeordneten den Italiener tatsächlich an die Spitze des Parlaments, könnte das Auswirkungen auf die zweite EU-Institutionenwahl des Jahres haben.

Seit 2009 wird der Vorsitz im Europäischen Rat für zweieinhalb Jahre fix an einen Politiker vergeben. Im Moment bekleidet der ehemalige polnische bürgerliche Premier Donald Tusk das Amt. Mitte 2017 muss er sich seiner Wiederwahl stellen. Und die könnte gleich doppelt erschwert werden. Sollte Tajani tatsächlich EU-Parlamentspräsident werden, würden mit Juncker, Tajani und eben Tusk drei bürgerliche Politiker die EU-Spitzenämter bekleiden. Das könnte zu Rufen nach Änderung von sozialdemokratischer Seite führen.

Tusk noch nicht abgeschrieben

Zugleich fehlt Tusk die Unterstützung der polnischen rechtsnationalen Regierung. Abgeschrieben sei der Ratspräsident aber deshalb noch nicht, sagt Emmanouilidis. Der polnische Politiker habe sich in den vergangenen Jahren ein Profil erarbeitet, so der EU-Experte. Und er gibt zu bedenken, dass die Entscheidung im Rat nicht einstimmig fallen muss. Darüber hinaus würde sich Polens Regierung womöglich gar nicht aktiv gegen Tusk stellen - aus Sorge, dass der bürgerliche Politiker zu einem starken oppositionellen Widerpart im eigenen Land wird.

„Ich würde ein Fragezeichen hinter die These setzen, dass Tusk es nicht mehr wird“, sagt Emmanouilidis. Große Streitigkeiten rund um die Besetzung des Ratspräsidenten dürften ohnehin nicht im Interesse der Staats- und Regierungschefs sein. Die Gewässer, welche die EU zurzeit durchschifft, sind bereits aufgewühlt genug. Da braucht es nicht noch zusätzliche politische Gewitterwolken. Wobei: Mit stürmischer See kennt man sich auf der Mittelmeer-Insel Malta zumindest gut aus.

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