Nach einem ersten irischen "Nein"

Janis A. Emmanouilidis

Kommentar

Athen 06/2008


Nach einem ersten irischen „Nein“

(veröffentlicht am 10.6.2006)

Am 12. Juni 2008 werden die Iren in einem obligatorischen Referendum über den Vertrag von Lissabon abstimmen. Laut letzten Umfragen liegen die Befürworter des neuen europäischen Primärrechts noch knapp in Führung. Der Ausgang der Wahl ist jedoch mehr als offen. Viele Wähler sind noch unentschlossen und werden sich erst in letzter Sekunde entscheiden, ob sie mit „Ja“ oder „Nein“ votieren. Die Gefahr einer geringen Wahlbeteiligung und der Umstand, dass am Ende erfahrungsgemäß vor allem Protestwähler den Gang zur Wahlurne antreten, gefährden einen positiven Ausgang des Referendums. Drei Jahre nach dem “Nein” der Franzosen und Niederländer zum Verfassungsvertrag hängt das Schicksal eines weiteren europäischen Vertrages am seidenen Faden.

Doch was würde geschehen, wenn die irischen Wähler den Vertrag von Lissabon ablehnen? Die meisten Kommentatoren sind der Ansicht, dass ein irisches „Nein“ im Juni 2008 dem Lissabonner Vertrag den Todesschuss versetzen würde. Die Argumentation lautet dabei wie folgt: Die Iren werden kein zweites Mal über den Vertrag abstimmen – wie sie es noch 2001/02 getan hatten, als der Nizza-Vertrag in einem ersten Referendum gescheitert war, und erst nach einer erfolgreichen zweiten Volksbefragung ratifiziert werden konnte. Dieses Mal würden die Iren dem französischen und niederländischen Exempel folgen. Nach dem „Nein“ zur Europäischen Verfassung im Mai/Juni 2005 hatten sich die Regierungen in Paris und Den Haag gegen ein zweites Referendum entschieden. Würde die politische Führung in Dublin diesem Vorbild nacheifern, wäre der Ratifikationsprozess gescheitert. Das „Nein“ der Iren wäre definitiv und der Vertrag von Lissabon, der die wesentlichen Neuerungen des ursprünglichen Verfassungsvertrags beinhaltet, könnte nicht in Kraft treten. Die EU 27+ müsste weiterhin auf der Grundlage des unzureichenden Nizza-Vertrages operieren. In Europa würden Krisenwolken aufziehen und der „alte Kontinent“ wäre politisch über Jahre hinweg gelähmt.

Doch ist dieses Szenario die einzig mögliche Option? Nein! In einem wesentlichen Punkt würde sich ein mögliches irisches „Nein“ maßgeblich vom französischen und niederländischen von vor drei Jahren unterscheiden. Lässt man Irland außen vor, stehen die Chancen äußerst günstig, dass der Vertrag von Lissabon in allen anderen 26 EU-Ländern ratifiziert werden kann – vorausgesetzt, dass der Ratifikationsprozess fortgesetzt wird. 18 Mitgliedstaaten haben das neue Primärrecht bereits ratifiziert und die anderen sind auf einem Erfolg versprechenden Weg. Darunter auch einige unsichere Kantonisten wie Dänemark, Frankreich, die Niederlande, Polen, Tschechien oder das Vereinigte Königreich.

In 2005 war die Situation eine andere: Ja, die Franzosen und Niederländer hatten zwar als einzige den Verfassungsvertrag abgelehnt. Doch wäre der Ratifikationsprozess damals fortgesetzt worden, hätten weitere EU-Staaten nachgezogen. Die Inhalte der europäischen Verfassung hätte nicht gerettet werden können und die Europäische Union wäre in eine noch tiefere Krise gestürzt.

Drei Jahre später liegen die Dinge anders: Sollten diejenigen EU-Staaten, die noch nicht über den Vertrag von Lissabon abgestimmt haben, ihre parlamentarischen Ratifikationsverfahren fortsetzen, könnte Irland am Ende das einzige Land sein, in dem das neue Primärrecht abgelehnt wurde. In diesem Fall werden die 26 übrigen EU-Staaten, die gemeinsam annähernd 490 Millionen Menschen und damit fast 99 Prozent (!) der EU-Gesamtbevölkerung repräsentieren, das moralische Recht haben, ihre irischen EU-Mitbürger um eine Wiederholung des Referendums zu bitten. Im Gegenzug könnten die EU-Partner auf die zentralen Bedenken der Iren eingehen und Dublin in dem einen oder anderen Punkt entgegenkommen. Würde dem irischen Wahlvolk bewusst, dass ein Inkrafttreten des neuen Vertrages letztlich von ihrem finalen Votum abhängt, würde das Bewusstsein der Wählerschaft für die Tragweite ihrer Entscheidung geschärft. Die Wahlbeteiligung würde steigen und innenpolitische Motive, die eine Ablehnung im ersten Urnengang befördert hatten, würden in den Hintergrund treten. Im Ergebnis würden die Chancen auf ein „Ja“ in einem zweiten Referendum steigen.

Um diesen Weg einzuschlagen, sollten die EU Staats- und Regierungschefs bei ihrem Gipfeltreffen Ende Juni ein starkes Signal ausschicken. Im Falle eines negativen irischen Votums sollten sie mit Nachdruck erklären, dass sie die Entscheidung der Iren zwar anerkennen, dass der Ratifikationsprozess in den anderen EU-Staaten dennoch fortgesetzt wird, trotz des ersten irischen „Neins“. Doch bevor es dazu kommt, sollten alle Europäer die Daumen drücken, dass Irland bereits am 12. Juni für den Vertrag von Lissabon votiert, damit uns allen das Schauspiel einer weiteren unproduktiven europäischen Krise erspart bleibt.


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