Europas ehrgeiziges Durchwursteln

Janis A. Emmanouilidis, Wirtschaftsblatt, 02.08.2012

Op-ed

Link to original article


Im Gefolge der Eskalation der Eurokrise und der auf dem letzten EU-Gipfel getroffenen Entscheidungen – insbesondere dem Bekenntnis der Staats- und Regierungschefs der EU, den Weg hin zu einer echten Wirtschafts- und Währungsunion einzuschlagen – ist es höchste Zeit für die Frage, was jetzt kommt. Egal, wie das Endergebnis aussieht: Die aktuelle Krise wird die Zukunft der europäischen Integration grundlegend beeinflussen.

Schlimmstenfalls könnte Europas Staatsschuldenkrise zum Zusammenbruch der Eurozone führen, was unmittelbare negative Auswirkungen auf die EU selbst hätte. Zum Glück scheint dieses Szenario nach wie vor recht unwahrscheinlich, denn die EU-Länder inner- wie außerhalb der Eurozone scheinen sehr darauf bedacht, die enormen wirtschaftlichen, finanziellen, politischen und sozialen Folgen eines derartigen Szenarios zu vermeiden. Doch die Gefahr eines grundlegenden Zerfalls hat zugenommen, und ausschließen lässt sich ein derartiges Ergebnis heute nicht mehr.

Zugleich scheint es unwahrscheinlich, dass die Mitgliedsstaaten bereit und in der Lage sein werden, den gigantischen Sprung hin zu „Vereinigten Staaten von Europa“ zu machen, d.h. zu einem echten föderalen Gebilde, innerhalb dessen sich die EU-Länder bereit erklären, ihre nationale Souveränität in nie dagewesenen Maße aufzugeben.

Die Entwicklung seit 2010 legt nahe, dass das „Durchwursteln“ auf absehbare Zeit die vorherrschende Strategie der EU bleiben wird. Doch werden der wachsende existentielle Druck auf die Gemeinschaftswährung und die kontinuierliche Wachsamkeit von Märkten und Bürgern anders als bisher kühne politische Antworten erfordern, die deutlich über den kleinsten gemeinsamen Nenner hinausgehen.

Letztlich dürfte ein „ehrgeiziges Durchwursteln“ zu einem verstärkten Maß wirtschaftlicher und fiskalischer Integration (insbesondere zwischen den Euroländern) führen, das auch eine verbindliche Synchronisierung der nationalen Haushalte, eine größere wirtschaftliche Abstimmung und letztlich eine begrenzte Form der Schuldenvergemeinschaftung beinhaltet. Anders ausgedrückt: Die Lösung der Krise wird, auch wenn sich das endgültige Ergebnis unmöglich vorhersagen lässt, „mehr Europa“ erfordern, da sie aus einem komplexen Prozess hervorgehen wird, der darauf abzielt, gegenläufige und einander widersprechende Positionen sowohl innerhalb der EU als auch zwischen den Euroländern unter einen Hut zu bringen.

Die Staats- und Regierungschefs der EU haben den Präsidenten des Europäischen Rates, Herman Van Rompuy, beauftragt, in enger Abstimmung mit den Präsidenten der Europäischen Kommission, der Eurogruppe und der Europäischen Zentralbank eine Roadmap für eine „echte Wirtschafts- und Währungsunion“ zu entwerfen. Der endgültige, im Dezember 2012 vorzulegende Bericht soll aufzeigen, welche weiteren Schritte auf Grundlage der bestehenden EU-Verträge ergriffen werden können und welche Maßnahmen Vertragsanpassungen erfordern.

Angesichts der Dringlichkeit der Krise könnten einige der unmittelbar erforderlichen Schritte hin zu stärkerer wirtschaftlicher und fiskalischer Integration, die im Rahmen der bestehenden EU-Verträge nicht durchsetzbar sind, zusätzliche zwischenstaatliche Vereinbarungen erfordern, die außerhalb des Vertragsrahmens der EU liegen. Ein derartiger Ansatz sollte kein Ziel per se sein, könnte jedoch erforderlich werden, um die Gefahr eines Eurozusammenbruchs abzuwenden.

Doch um wieder für institutionelle Kohärenz, Rechtssicherheit und demokratische Rechenschaftspflicht zu sorgen, sollten die Kernelemente des „Fiskalpakts“ und etwaiger künftiger Übereinkommen zwischen den EU-Regierungen schnellstmöglich in das primäre Recht der Union überführt werden. Zugleich erfordert der Weg zu einer echten Wirtschafts- und Währungsunion grundlegendere institutionelle Reformen. Dieser Prozess kann nicht auf die Regierungen begrenzt bleiben, sondern muss zudem im Rahmen einer neuerlichen Europäischen Konvention das Europäische Parlament und die nationalen Parlamente einbinden.

Ein stärkeres Maß an wirtschaftlicher, fiskalischer und politischer Integration erfordert zudem die Ergänzung der nationalen Verfassungen. Die Ratifizierung eines neuen EU-Vertrags und die Anpassung der nationalen Verfassungen würden in etlichen Ländern unweigerlich Volksbefragungen nötig machen. Angesichts der Ablehnung des EU-Verfassungsvertrages durch die niederländischen und französischen Wähler im Jahre 2005 und der zunehmenden Frustration der europäischen Bürger mit der Union und ihrem Krisenmanagement wäre das Ergebnis hochgradig unsicher. Doch ist dies ein Risiko, das man eingehen muss. Tatsächlich könnten sich die Gefahr eines Eurozusammenbruches oder ein potenzieller Ausstieg aus der Gemeinschaftswährung als ausreichend starke Argumente erweisen, um eine Mehrheit der Europäer zu „überreden“, mit Ja zu stimmen.

Das Szenario des „ehrgeizigen Durchwurstelns“ wird lang, holprig und manchmal riskant verlaufen und vermutlich ein Ergebnis zeitigen, das ganz anders aussieht als heute erwartet. Doch bevor die EU diesen unvermeidlichen und unsicheren Weg beschreitet, müssen ihre Institutionen und Mitgliedsstaaten (mit aktiver Unterstützung der EZB!) ein Sicherheitsnetz konzipieren, das den Euro und die Union selbst in schwierigen Zeiten vor dem Absturz bewahrt.

Es ist schließlich davon auszugehen, dass die Schuldenkrise weiter unmittelbaren wirtschaftlichen, fiskalischen und Marktdruck erzeugen wird. Doch zugleich werden die EU und ihre Mitglieder zunehmend mit den von der Krise verursachten Kollateralschäden fertig werden müssen – ihren unbeabsichtigten und unerwarteten Folgen auf europäischer und nationaler Ebene.

Hierzu gehören ein wachsender Nationalismus und gegen den Euro/die EU gerichteter Populismus, zunehmende soziale Herausforderungen in vielen Mitgliedsländern, ein wachsendes „Demokratiedefizit“ dort und in der EU, eine vergiftete Atmosphäre zwischen den EU-Ländern und der Mangel an proaktiven, stabilen Führungskoalitionen, die in dieselbe Richtung arbeiten. All dies könnte zu einem Stillstand führen, der im gegenwärtigen Umfeld einem Rückschritt gleichkäme und nicht nur die künftigen Aussichten der europäischen Integration, sondern auch ihre früheren Erfolge bedrohen würde.

Unter diesen Umständen ist „ehrgeiziges Durchwursteln“ das wahrscheinlichste und auch vielversprechendste Szenario. Es wird nicht leicht, und es bleibt keine Zeit für Selbstzufriedenheit, bedenkt man, dass die EU höchstwahrscheinlich noch eine ganze Weile im Krisenmodus verharren wird. Doch es dürfte der einzige Weg sein, um dafür zu sorgen, dass Europa sich weiter voran bewegt.

For the original article published by Project Syndicate see here.


Latest media contributions

EPC Update & Post-summit Briefing – The Spring Summit: Signs of strength or disunity?
Online Briefing, YouTube, 22.03.2024

Μπλόφα για συμμαχική αφύπνιση
Quotes, Kathimerini (GR), 03.03.2024

EPC Update – What impact will the year of elections have on the EU27?
Online Briefing, YouTube, 28.02.2024

EPC Update & Post-summit Briefing – Informal EU summit: The battle for an EU budget deal
Online Briefing, YouTube, 02.02.2024

EU leaders to press Hungary on Ukraine funding deal
Quotes, Deutsche Welle (DW), 31.01.2024

Von der Leyen will EU-Kommissionschefin bleiben
Interview/Quotes, Deutsche Welle (DW) (DE), 19.01.2024

Von der Leyen candidează la o nouă Președinție a C.E.
Interview/Quotes, Deutsche Welle (DW) (PL), 19.01.2024

Κινδυνεύει η Ε.Ε. από ακροδεξιό «τσουνάμι»;
Quotes, Kathimerini (GR), 02.01.2024

Belgiens EU-Ratspräsidentschaft: Viel zu tun, wenig Zeit
Quotes, Deutsche Welle, 01.01.2024

EPC Update – The final summit of a turbulent year: Outcomes and next steps
Online Briefing, YouTube, 12.12.2023


Media